Kuratorium der Gossner Mission tagt in Norden - Inspiration: Dokumentationsstätte Tidofeld
„Flucht – Vertreibung – Migration – Integration“: Diesem aktuellen Thema widmete sich am Freitag und Sonnabend das Herbst-Kuratorium der Gossner Mission. Zum 2. Mal nach 2011 hatte Superintendent Dr. Helmut Kirschstein, seit Herbst 2020 auch ehrenamtlicher Vorsitzender des in Berlin beheimateten Missionswerks, dazu in den Kirchenkreis Norden eingeladen. Und selbstverständlich bot die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld den angemessenen Raum zur gemeinsamen Erarbeitung des Themas.
Etwa 23 Personen nahmen am Leitungstreffen der Gossner Mission teil, darunter 15 gewählte und 5 von den unterstützenden Landeskirchen delegierte Kuratorinnen und Kuratoren. Da es in ganz Norden-Norddeich während der „Saison“ nicht möglich ist, Übernachtungsmöglichkeiten für eine oder zwei Nächte zu buchen, fand das Treffen überwiegend in Emden statt. Hier hatte Regionalbischof Dr. Detlef Klahr – auch er Kurator der Gossner Mission – für die Bereitstellung der Johannes-a-Lasco-Bibliothek als Tagungsort gesorgt.
Am frühen Freitagnachmittag eröffnete Dr. Kirschstein das Kuratorium mit einer Andacht zu Flucht, Vertreibung und Integration in der Bibel, illustriert durch entsprechende Bibelfliesen, wie sie das Norder Bibelfliesenteam seit rund zwei Jahrzehnten kultiviert. Auf dem Programm stand dann zunächst der Bericht des Vorsitzenden, in dem Dr. Kirschstein u.a. seine kürzliche Partnerschafts-Reise nach Sambia und das Engagement des Norder Freundeskreises Uganda während des zweieinhalbwöchigen Besuchs einer ugandischen Delegation im Mai hervorhob. Er unterstrich die besondere Bedeutung des ersten Gossner-Tags in Hannover und ließ auch den bereits dritten Ostfriesischen Gossnertag in Norden Revue passieren. Hin und her seien Freundschaften zwischen Süd und Nord, aber auch im Miteinander der Süd-Partner entstanden: „Wir haben die Welt-umspannende Gossner-Familie erleben dürfen!“
Nach einer Pause brach das Kuratorium per Bus-Shuttle zur Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld auf. Hier widmete sich das Gremium seinem Schwerpunktthema und griff dabei auf die Dauerausstellung zurück, die aus persönlicher und regionaler Perspektive vor allem Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa und den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie deren Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft thematisiert. Dazu begrüßten Lennart Bohne, Leiter des offiziellen „Friedensorts“ der Hannoverschen Landeskirche, und Dr. Helmut Kirschstein, hier auch als Vorsitzender des Trägervereins, das Kuratorium gemeinsam in der Dokumentationsstätte.
Bohne erläuterte die Entstehung der Dokumentationsstätte. Er wies darauf hin, dass die Ausstellung neben Flucht und Vertreibung vor allem die Ankunft und Aufnahme der Menschen in Ostfriesland thematisiere. Dargestellt wird in Tidofeld, welche Rolle solche Faktoren wie Arbeit, Glaube und Zusammenhalt bei der Integration gespielt haben. In Exponaten und Zeitzeugen-Interviews wird die Geschichte Einzelner vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse deutlich; der Schmerz über den Verlust der alten Heimat wird ebenso erkennbar wie neue Möglichkeiten in der neuen Heimat. Bohne schlug eine Brücke ins Hier und Jetzt: „Die Lebensgeschichten der Nachkriegszeit laden dazu ein, sie anzuhören und sich darüber auszutauschen – und die Gegenwart miteinzubeziehen, in der es in Europa nun wieder Krieg und Flucht gibt.“
Derart inspiriert, widmete sich das Kuratorium den Fragen von Flucht, Vertreibung, Migration und Integration in den Gossner-Arbeitsgebieten. Die Vorsitzende des Afrika-Ausschusses, Heidrun Fritzen, stellte eine Präsentation zu Sambia vor, die von der früheren Gossner-Mitarbeiterin Ursula Gröhn-Wittern erarbeitet worden war. Für den Bau des Kariba-Staudamms im Süden Sambias wurden in den 1950er Jahren rund 70.000 Menschen zwangsevakuiert; vertrieben aus ihrer fruchtbaren Uferregion in eine „staubige und trockene Gegend“, wo sie mit den Bedingungen nicht zurechtkamen. Die Gossner Mission engagierte sich vor allem in den 70er und 80er Jahren mit hohem Personaleinsatz, um Straßen, Brücken und Schulen zu bauen und den Vertriebenen Grundlagen für ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Danach – und bis heute – gab es weitere Vertreibungen, so müssen die Menschen vom Volk der Tonga immer wieder dem Bau von Kohlebergwerken weichen.
Kurator Michael Heß und Roiyan Bolbondia, Süd-Nord-Freiwilliger aus Assam, erinnerten an den großen Treck der Adivasi-Arbeitskräfte, die Ende des 19. Jahrhunderts von der britischen Kolonialverwaltung in Chotanagpur angeheuert wurden, um auf Tee-Plantagen in Assam zu arbeiten. Aus dem Hochland ging es „in die Brahmaputra-Sumpfmündung, die im Sommer kocht“, so Heß. „Die Adivasi starben zu Tausenden.“ Die Trecks wurden begleitet von Gossner-Missionaren, die den Adivasi unterwegs und in der Zielregion beistanden. So entstand 1902 die erste Gossner-Kirchengemeinde in Assam. Heute leben dort rund 7 Mio. Adivasi, davon 4,7 Mio. in großer Armut auf den Tee-Plantagen; unter schwierigen Bedingungen, der Willkür der Plantagenbesitzer ausgeliefert, für umgerechnet 2,50 Euro Tageslohn. Es mangelt an Schulen und an Perspektiven. Die Gossner Mission versucht, hier durch ein groß angelegtes Programm zur Dorfentwicklung gegenzusteuern.
Aus Kitgum in Uganda berichtete James Oballim (Programme Coordinator im Household & Community Transformation Department) per Video – er war erst kürzlich noch mit der ugandischen Delegation in Norden gewesen. Uganda habe in den vergangenen Jahren rund 1,5 Mio. Geflüchtete aus dem Südsudan aufgenommen – und kämpfe nun mit zahlreichen Herausforderungen, die damit einher gehen: Landkonflikten, einer erhöhten Kriminalitätsrate, Bildungs- und Arbeitsplatzproblemen. Zugleich betonte Oballim, dass die Regierung – auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen im eigenen Land in der Zeit des Bürgerkriegs (1986 bis 2006) – nicht gezögert habe, diese große Zahl von Geflüchteten aus dem Nachbarland aufzunehmen; zur leichteren Integration habe man den Menschen Landparzellen zur Verfügung gestellt. Hier hatte die Gossner Mission etwa im Flüchtlingslager Pagirynia zur Grundversorgung beigetragen.
Anhand der Darlegung Kontinent-übergreifender Herausforderungen fiel es dem Kuratorium nicht schwer, existentielle Verbindungen zwischen Geflüchteten und Vertriebenen in Deutschland sowie den Partnerschafts-Ländern der Gossner Mission zu erkennen. Wie sich die Einsichten in den gesellschaftspolitischen Hintergrund von Flucht und Vertreibung einerseits, Möglichkeiten der erfolgreichen Integration und neuen Beheimatung andererseits auf die Arbeit der Gossner Mission auswirkt, werden weitere Kuratorien zeigen.
Im Anschluss an das schwergewichtige Thema genossen die Kuratorinnen und Kuratoren eine Kirchen- und Orgelführung in der Norder Ludgerikirche: Kirchenkreiskantor Thiemo Janssen stellte die weltberühmte Arp-Schnitger-Orgel vor, brachte mehrere Werke norddeutscher Komponisten beeindruckend zu Gehör und ließ es sich nicht nehmen, die Besonderheiten des Instruments auch noch fachgerecht auf der Orgel-Empore zu erläutern.
Nach der Eröffnung mit einer Andacht von Regionalbischof Dr. Detlef Klahr beschäftigte sich der zweite Tag des Kuratoriums mit dem erfolgreichen Relaunch der Gossner-Homepage und Berichten aus sämtlichen Arbeitsgebieten des Missionswerks. Ausführlich kam der indische Bischof Johan Dang zu Wort: Als leitender Geistlicher der 400.000 Gläubige umfassenden ev.-luth. Gossner-Kirche und kürzlich gewählter Vorsitzender der Konferenz aller 12 lutherischen Kirchen Indiens brachte er aktuelle Impressionen von der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe (31.8.-8.9.) ein: Er selbst habe die ökumenischen Herausforderungen ganz neu wahrgenommen und werde sich in Zukunft auch in seiner Heimatkirche vehement für eine ökumenische Horizonterweiterung christlicher Arbeit einsetzen.
Abschließend beschäftigte sich das Kuratorium mit der Spenden-Entwicklung und dem Haushalt 2023. Zur Freude des Vorsitzenden wurde eines seiner „Herzens-Projekte“ einstimmig verabschiedet: Im kommenden Jahr wird ein „Senat“ eingerichtet, in den langjährig Aktive, inzwischen aber aus allen Funktionen ausgeschiedene Mitarbeitende berufen werden sollen. Auf ihre „Weisheit“ und Lebenserfahrung wolle man nicht länger verzichten, so Dr. Kirschstein, der hofft, über die Gemeinschaftsbildung und Einbindung Ehemaliger auch auf ihre profunde Beratung zurückgreifen zu können. Auch neue Aktivitäten wie Vortragsveranstaltungen und Fundraising-Maßnahmen sollen durch den „Senat“ der Gossner Mission gefördert werden.