Gábor Lengyel zum "Tag der deutschen Einheit" in Tidofeld: "Zusammenleben in Vielfalt"
Fragen zur deutschen Einheit? Wenn es dabei nicht nur um Ost und West, sondern um die Einigkeit eines vielfältigen Landes geht, dürfte es kaum einen kompetenteren Referenten geben als den Hannoverschen Senior-Rabbiner Dr. Gábor Lengyel. In einer Feierstunde zum Tag der deutschen Einheit nahm der 81-Jährige die Thematik „Geflüchtete und Rassismus, Heimat und Integration“ auf und gab sehr persönliche Antworten aus seiner wechselvollen Lebensgeschichte.
Der große Saal der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld hatte sich gut gefüllt, auch Bürgermeister Florian Eiben und Landrat Olaf Meinen waren gekommen, als Superintendent Dr. Helmut Kirschstein – Vorsitzender des Trägervereins – mit Gedanken zur deutschen Nationalhymne die Veranstaltung eröffnete: „Einigkeit“ sei offenbar schon 1841 eine große Herausforderung gewesen, als Hoffmann von Fallersleben dem zerrissenen Deutschland die Vision eines Zusammenlebens in Vielfalt vor Augen malte: nicht von oben oktroyiert, sondern in „Recht und Freiheit“ gestaltet.
Lennart Bohne, Leiter der Dokumentationsstätte, führte in die Thematik jüdischen Zuzugs nach 1945 ein: Bis zur „Wende“ 1989 habe es nur noch 29.000 Juden in Deutschland gegeben – erst ab 1990 sei im Rahmen der Kontingentregelung eine breite Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht worden, offiziell erwünscht, denn es handelte sich weder um Asylsuchende noch um Vertriebene.
Gábor Lengyel wollte sich nicht auf die engere Geschichte der jüdischen Zuwanderung in den letzten 30 Jahren beschränken. Kurz skizzierte er seine eigene Lebensgeschichte mit Eckdaten selbst erlebter Unterdrückung, Vertreibung und Migration: Im Oktober 1944 hatten ungarische Faschisten seine Eltern abgeholt, die Mutter starb, er selbst überlebte mit wenigen Angehörigen im Versteck und erfuhr das Vordringen der Roten Armee als Befreiung, flüchtete allerdings aufgrund der sowjetischen Unterdrückung 1956 aus Ungarn: „über die Balkanroute“ nach Österreich, wie er aktualisierend erläuterte. Bis 1965 lebte Lengyel in Israel und absolvierte sehr bewusst seinen Dienst „in der israelischen Verteidigungsarmee“, wie er betonte. 1965 ging er zur Überraschung seiner Freunde nach Deutschland, wo er studierte und schließlich 32 Jahre lang in der internationalen Wirtschaft tätig war. Bald schon engagierte er sich auch religiös im Vorstand verschiedener jüdischer Gemeinden. Erst im Alter studierte er Theologie und promovierte, um 2009 in Hannover als Rabbiner eingeführt zu werden.
Was bedeutet „Heimat“ angesichts einer derartigen Lebensgeschichte? Als die ungarische Nationalelf im November 1953 England im Wembley-Stadion 6:3 besiegte, sei für ihn klar gewesen: „Ungarn!“ Nach 1956 wurde es „selbstverständlich“ Israel, „und meine seelische Heimat bleibt Israel“. Tatsächlich sei die Heimat-Frage für ihn gegenwärtig aber „unbeantwortet“, als Staatsbürger Israels wie Deutschlands spreche er eigentlich ungern darüber, lieber sage er, wo er sich „zu Hause“ fühle. Und da kommt nun Deutschland in den Blick, allerdings so, wie die Anti-Diskriminierungs-Beauftragte der Bundesregierung, Ferda Ataman, es vorbildlich zusammengefasst habe: „Deutschland ist die Heimat der Erinnerungskultur – die Heimat der Weltoffenheit – die Heimat der Religionsfreiheit.“ Gábor Lengyel warnte davor, den erst im Zuge des Flüchtlingszuwachses 2015/16 wieder populär gewordenen Heimat-Begriff primär auf Volk und Nation zu beziehen: Sonst werde Heimat zum „Code“ für „Deutschland den Deutschen“, und schnell erklinge die „antimuslimische Melodie“.
Lebendig erzählte der Referent dann von Interviews, in denen aus Russland und den ehemals sowjetischen Ländern zugewanderte Juden in Deutschland über ihre Heimat-Vorstellungen nachdachten. Die Komplexität der Antworten reichte von Verinnerlichung bis zu patriotischem Selbstbewusstsein: „ Meine Heimat existiert in meinem Herzen“ – oder: „Mein Judentum ist eine ortlose Heimat, wir sind als Juden verbunden in einer Schicksalsgemeinschaft“ – oder: „Wir sind hier, um als Juden selbstbewusst die deutsche Gesellschaft mit zu prägen“.
Gábor Lengyel nahm aber auch eine religiöse Verortung vor: Er rekurrierte auf fundamentale Weisungen aus dem 3. Buch Mose, wo der „Fremdling“ unter den besonderen Schutz Gottes gestellt wird, solidarisch begründet auf das eigene Erleben: „Denn Fremdlinge waren wir selbst in Ägypten.“ Rabbi Samson Raphael Hirsch habe diesen Grundsatz „aus unsrer gemeinsamen Bibel“ aufgenommen und darauf verwiesen, dass der „Fremdling vertrauensvoll in deinen Kreis“ tritt: „Er ist dir gleich – gönne ihm gleiches Recht!“ Dementsprechend habe er – Gábor Lengyel – sich 2015/16 gemeinsam mit seiner Frau in einem hannoverschen Flüchtlingsheim engagiert und sich von Anfang an um eine syrische Familie aus Damaskus gekümmert. Dieses Engagement stieß aber nicht nur auf Wohlwollen: „Juden helfen ihren syrischen Feinden?“ wurde einerseits gefragt, und andererseits brach die syrische Familie die Beziehung schließlich ohne Erklärung ab. Überhaupt, so erzählte Lengyel weiter, habe er in jüdischen Gemeinden kein vergleichbares Engagement für geflüchtete Muslime erlebt; vielmehr stieß er überall auf das Vorurteil: „Die sind doch alle zukünftige Terroristen!“
Wie sehr er selbst und seine Frau derartige Vorurteile ablehnen, zeigt sich in ihrem fortgesetzten Einsatz: Als Ersatzeltern – oder auch als Oma und Opa – fungieren die beiden für ihr zweijähriges „Enkelkind“ Sam aus Syrien und auch für den achtjährigen Emmanuel aus Ghana.
Dieser persönliche Einsatz markiere für ihn den einzig gangbaren Weg: „Wir müssen miteinander statt übereinander sprechen, auch über das, was wir seit der deutschen Wiedervereinigung versäumt haben.“ Denn die wünschenswerte Vielfalt der Gesellschaft wurde nach Beobachtung Dr. Lengyels nicht kommuniziert, eine „Vereinigung auf Augenhöhe“ und ohne völkisches Bewusstsein fand nicht statt. „Integration“ müsse „Teilhabe“ bedeuten, es gehe um die Ermöglichung aktiver Mitgestaltung für ein „Zusammenleben in Vielfalt“. Um seinen Vortrag positiv zu beenden, schwärmte Dr. Gabor Lengyel am Ende geradezu von der niedersächsischen Landeshauptstadt und rühmte die lebendige Nachbarschaft, in der „alle gemeinsam ohne Angst“ leben können: „Hannover ist eine offene Stadt der Vielfalt.“ In diese Harmonie hinein spielte Natalia Schilref, die den Abend mit ihrem Akkordeon musikalisch umrahmte, ein motivierendes „Hevenu Shalom alechem“, und alle sangen mit: „Wir wollen Frieden für alle...“